Aschenputtel
Ich fand einen Schuhkarton und ich prüfte ihn. Nicht, daß altes Laufwerk mich dem Glücke näher brächte, doch die Neugier ließ mich nicht anders handeln. Ich riß an der Kiste und mit einem kratzenden Geräusch gab die Umhüllung nach. Ein einzelner Frauenschuh fiel berstend auf das harte Pflaster und mit Erstaunen stellte ich fest, daß er ganz und gar aus Glas bestanden hatte, bevor ich ihn aus seinem Versteck befreite.
Und nun lag ein Häuflein Scherben vor mir, einzig der Absatz überlebte den Sturz heil. Er ragte aus dem Scherbenpalast wie ein kleiner Glockenturm hervor, funkelte im Schein der Straßenlaternen und man konnte förmlich das Läuten der Miniaturglöckchen hören. Der Klang machte mich wehmütig und natürlich auch die Tatsache, daß ich in meiner Trottelei den Schuh zerbrochen hatte.
Ich öffnete die Verpackung vollständig, um nachzuschauen, ob sich noch etwas darin befand. Und tatsächlich. Ein winziges Kuvert schmiegte sich in eine Ecke des Kartons, so daß man es fast hätte übersehen können. Ich nahm es an mich, erbrach es mit bebenden Händen und fand ein weißes Kärtchen mit der Aufschrift:
FÜR MEIN GELIEBTES ASCHENPUTTEL! DEIN PRINZ!
Keine Adresse, kein Absender, nur dieser schlichte Satz, welcher mich nichtwissend in die dumpfe Welt zurückführte. Ein Märchen, kurz erwacht im Schmutz der Straße und schnell entschlafen nach der zermalmenden Bewegung des Hackens meines rechten Schuhs. Die Karte warf ich in den Rinnstein und ging meiner Wege.
Vielleicht wärst du jetzt reich, du geschundenes Wesen. Lebtest du nicht in dieser großen Stadt, in welcher selbst der geduldigste Prinz irgendwann die Suche aufgibt, sich auf sein Schloß zurückzieht und die nächstbeste, ihm über den Weg laufende Königstochter heiratet.
Schade um dich, Aschenputtel! Aber man kann eben nicht immer Glück haben.
1995