Das Rammholz oder das große Land

Zum 3. Oktober 1990

Unter einem Tor standen viele Menschen. Ich weiß nicht warum, aber sie standen da. Und sie hielten Stäbe in den Händen, an welchen dreigefärbte Stofflappen befestigt waren und sie schrien und sangen dumme Lieder. Auch waren da welche, die den ganzen Tag unter dem Tor hin- und herliefen, manchmal sogar drumherum und dabei soviel getrunken hatten, daß sie nicht einmal wußten, warum sie da liefen. Manche taumelten und manche schwankten beim Laufen, manche verloren die Orientierung und manche rannten vor Verblendung gegen die Säulen des Tores, wurden von anderen wieder auf die Beine gebracht und liefen abermals los. Es wurde Musik herbeigeschafft, um den Leuten ihre Tätigkeit zu erleichtern. Aber diese achteten nicht darauf, vielleicht, weil sie keine Zeit hatten um den Klängen zu lauschen, vielleicht aber auch, weil diese Musik wirklich nicht beachtenswert war.

Und dann war da ein Haus. In dem saßen fast so viele Menschen, wie die, die unter dem Tor standen oder dort herum rannten und in diesem Haus redeten die Leute heftig aufeinander ein und beschuldigten sich böser Dinge. Manche von diesen Leuten saßen einfach nur da, schlugen nach besonders heftigen Beleidigungen kräftig ihre Handflächen gegeneinander, lachten laut oder gaben sich betont schläfrig. Einer nach dem anderen durfte nach vorne treten und über ein Mikrofon seine Meinung kundtun, was manches Mal fast zu einer Saalschlägerei führte und manchem bittere Worte über die Lippen kommen ließ. Aber die meisten dieser Redner waren sich nicht darüber im Klaren, oder sie wollten sich nicht darüber im Klaren sein, daß sie eigentlich aneinander vorbeiredeten und den Menschen, die da unter dem Tor standen, völlig den Kopf verdrehten und sie maßlos verwirrten.

Die Leute liefen nun vom Tor zu Haus, riefen dort alberne Sachen und jubelten ihren Verwirrern zu, mit dem Bewußtsein, nichts zu begreifen. Da kam ein Mann aus dem Haus, groß, stark und bauernschlau, welcher sich an dem Jubel ergötzte und still und zufrieden, ob seiner Täuschungen und Gemeinheiten, in sich hineinlachte. Ein Wind entfuhr dem Mann und er erschrak darüber fürchterlich, wollte er sich doch keine Blöße geben und so überspielte er diese peinliche Szene, indem er laut grunzend Fragen beantwortete und ab und zu verlegen seine Brille putzte.

Inzwischen hatte sich vor dem Haus eine große Traube gebildet und die Menge begehrte schreiend Einlaß. Doch man wollte ihnen keinen Zutritt gewähren, was bei den Leuten ernste Zornesreaktionen hervorrief. Es wurde der Versuch gestartet, das hohe Haus zu stürmen, aber schwer behelmte Staatssöldner vereitelten dies, indem sie so fürterliche Grimassen schnitten, daß der Pöbel ernsthaft erschreckte und sich geschlagen zurückziehen mußte.

Man beratschlagte, was zu tun sei und zwei Männer unterbreiteten einen Vorschlag, welcher sofort unter wahren Begeisterungsstürmen in die Tat umgesetzt wurde. Jeder wehrfähige Mann im Alter von 20 bis 80 Jahren, der ein Taschenmesser sein Eigen nennen durfte, wurde nun nach vorne zitiert und nach seiner körperlichen Beschaffenheit befragt, was in manchen Fällen einer Offenbahrung glich, gab sich doch so mancher nur den Schein des Reckendaseins. Nach kurzen Einführungserläuterungen wurde an der großen, sich in der Nähe befindlichen Straße, welche nach den an ihrem Rande angesiedelten Bäumen benannt wurde, ein besonders schönes, stark im Triebe stehendes Exemplar dieser Pflanzensorte ausgewählt und die Männer machten sich eifrig daran, mit ihren Messern dieses Gewächs zu Fall zu bringen. Da aber nun jeder eine Daseinsberechtigung erlangen wollte und dies mit besonderem Arbeitseifer kundzutun versuchte, behinderte man sich natürlich permanent und nach ungefähr dreizehn Stunden, als die Menge sich eine kurze Verschnaufpause gönnte, konnte man an diesem Baum nicht mehr als eine von geisteskranker Hand geschaffene Schnitzerei erkennen. Auch entbehrte das Unterfangen zu jetztiger Zeit jeglichem Sinne, hatten die ehemals im Haus versammelten dieses doch schon seit mehreren Stunden verlassen, um sich ihrer wohl- aber nichtverdienten Ruhe hinzugeben und in ihrem trauten Heime, für die nächste Festivität oder Hochhausrede, neue Gemeinheiten auszudenken.

1990