Wie ich Jesus aus der Klemme half

So schnell wie es erschienen war, verschwanden mein Bild und der dazugehörige Bericht wieder aus den Tageszeitungen. Niemand wußte Genaues zu berichten und ich war nicht unfroh darüber. Denn was mir wiederfuhr, so seltsam und unglaublich es auch erscheinen mag, geht wirklich nur mich etwas an und nicht die gesamte, gelangweilte Öffentlichkeit. Gut, ich muß zugeben, daß so ein ungewöhnliches Ereignis ein wahres Fressen für die Hyänen der ausgetrocknetten Steppen der Medienlandschaft ist, aber Verständnis ist noch lange nicht die Bereitschaft zur Auslieferung. Deshalb schildere ich selbst in diesem Bericht eine wahrhafte und doch schier unwahrhaftig erscheinende Begebenheit.

WIE ICH JESUS AUS DER KLEMME HALF. Ich lernte ihn kennen als er sechsundzwanzig war. Er war ein sympathischer, aufgeschlossener und lebensfreudiger Mensch, Sohn eines Zimmermanns und es dauerte nicht lange bis wir Freundschaft schlossen und zusammen regelrecht durch dick und dünn gingen. Wir zogen durch die Lande und durch die Kneipen, lebten sehr einfach und schliefen meistens unter freiem Himmel. An den langen Abenden in den Wirtshäusern fesselte er die Gäste mit seinen Geschichten und Träumen, brillierte und fabulierte und verstrickte sich in so manche Diskussion. Die Jahre gingen dahin und wir waren glücklich, bis er mir, an einem wiederum recht feuchtfröhlichen Samstagabend sagte, er müsse sich zurückziehen um sich zu besinnen, am besten in eine öde Gegend, wo er allein sein kann mit Gott und der Welt. Ich schaute ihn nur an und nickte, wußte ich doch, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gestetzt hatte, konnten ihn keine zehn römischen Legionen davon abbringen. So verlor ich ihn aus den Augen und die Zeit wurde eine einzige kopflose Leere.

Ich schwelgte in wehmütigen Erinnerungen, wenn ich einsam am Tresen mein Bier schlürfte und die sonst mit seinen Worten gefüllte Schankräume wurden zu übelriechenden Saufhöhlen. Eines Nachts nun, ich ließ mich wiedermal, allein mit mir selbst vollaufen und wollte schon, fast abgefüllt, die Schänke verlassen, da wogten mir ein paar Gesprächsfetzen um die Ohren, welche mich schlagartig nüchtern machten und meine Hirnmaschine eiligst in Aktivität versetzten. Drei Bauernburschen am Nebentisch unterhielten sich über zwölf Verrückte und einen noch verrückteren Anführer namens Thesus oder Rhesus, der Name war in der allgemeinen Lautstärke schlecht zu verstehen, welche im Lande umherzogen, das gültige Gesetz neu interpretierten und damit der Obrigkeit ein Dorn im Auge waren. Jesus schoß es mir durch den Kopf, Jesus, das konnte nur Jesus sein. Philosoph, Landstreicher, Poet und - mein bester Freund. Er ist zurück, er ist zurück, jubilierte ich, mein Herz schlug höher, mein Hirn pulsierte und meine Leber drehte sich vor Freude dreimal um die eigene Achse. Ich bestellte, nun doch noch ein großes Bier und beschloß bei den drei vieschrötigen Herrn Näheres zu erfahren. Wo denn der Verrückte anzutreffen sei, fragte ich sie und was es mit den zwölf Anderen auf sich habe. Sie starrten mich mit glasigen Augen an, zeigten mir ihre schwieligen Fäuste und rülpsten mehr als daß sie sprachen bei dem Versuch mir klarzumachen, daß sie nichts mit Perversen, Geisteskranken, Schwulen und Niggern zu tun haben wollen und ob ich denn auch so einer sei, schrien sie mich an.

Nun wußte ich, es ist Zeit zu gehen und daß nicht jeder in seinem Kopf ein denkfähiges Gehirn mit sich herumträgt. So mußte ich mich wohl oder übel allein auf die Suche begeben, ohne einen Anhaltspunkt, wo sich Jess herumtreiben könnte. Ich klapperte alle Kneipen ab - nichts, die Bars und Nachtcafés - wieder nichts, ich suchte und suchte, lief mir die Füße wund, es war bereits hellichter Tag und da, plötzlich, wie aus heiterem Himmel höre ich eine Stimme, eine mir sehr bekannte Stimme und ich wußte ich war am Ziel. Sie schien aus einer großen Menschenmenge zu mir herüberzuwehen, welche sich seitlich von mir befand und ich hörte sie sagen: "Ihr wißt, daß unseren Vorfahren gesagt worden ist: MORDE NICHT! WER EINEN MORD BEGEHT, SOLL VOR GERICHT GESTELLT WERDEN. Ich aber sage euch: Schon wer auf seinen Bruder zornig ist, gehört vor Gericht. Und wer zu seinem Bruder sagt: Du Idiot! der gehört vor das oberste Gericht. Und wer zu seinem Bruder sagt: Geh zum Teufel! der verdient ins Feuer der Hölle geworfen zu werden."

Ja, das war Jess wie er leibt und lebt, immer noch der Alte und noch eine Spur philosophischer. Ich rannte auf die Menge zu, zerteilte sie wie ein Pflug, welcher aus einem Schwerte gewonnen wurde und fiel mit einem 'Oh, mein Gott!' um seinen Hals. Wir tanzten einen Ringelreigen der Freude und nachdem er seine Ausführungen beendet hatte, gingen wir in das nächste Lokal und bei einem Willkommenstrunk tauschten wir unsere Erlebnisse der letzten anderthalb Monate aus. Er hatte diese Zeit in der Wüste zugebracht, um sich zu finden, wie er sagte und ein Strauchdieb namens Luzifer hatte ihn immer abzulenken versucht, mit miesen Tricks und blöden Geschichten. Aber Jess wollte sich nicht ablenken lassen. Er meditierte, durchwanderte in seinen Träumen den Himmel und diskutierte in Trance mit Gott und dem Erzengel Gabriel über Gut und Böse und was denn nun eigentlich aus den Menschen werden sollte. So verstrich die Zeit und nach vierzig Tagen hatte er beschlossen zum Leben zurückzukehren und seine Träume nicht nur in der Kneipe, sondern auch auf der Straße zu erzählen. Als er geendet hatte stellte er mir seine zwölf neuen Freunde vor, bestellte beim Wirt einen Laib Brot und eine Kruke Wein und begann aufs Neue zu reden, nur diesmal eine Spur ernster.

Er berichtete über eine Vision, die er letzte Nacht gehabt hatte, in welcher ihn ein Freund bei der Obrigkeit denunzierte, er gefangengenommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde und die meisten seiner Gefolgschaft es leugneten ihn zu kennen. Er brach das Brot in dreizehn Teile, gab jedem von uns ein Stück und sprach metaphorisch: "Dies ist mein Leib, eßt, dann lebe ich in euch." und nachdem er jedem ein Glas Wein eingeschenkt hatte: "Trinkt aus diesen Bechern, dann pulsiere ich in euch." Wir alle wunderten uns über sein Gehabe, aber er bestand darauf, war er sich doch hundertprozentig sicher, daß er am nächsten Tag sterben müsse. Ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen, bestach einen Beamten des Prokurators Pilatus und erfuhr, daß der Pöbel, aufgehetzt von ein paar Konservativen, vorhatte an Jesus ein Exempel zu statuieren, weil er ihnen zu unförmiges Zeug redete und die Intellektuellen aufmüpfig mache. Und ein Mann namens Iskariot wollte ihnen für dreißig Silberlinge die angeblichen Beweise liefern.

Moment mal! dachte ich, sollte diese Vision wirklich wahr werden, dieser Typ ist doch einer von Jess' neuen Freunden. Das gilt es zu verhindern, brach sich in meinem Kopf ein Gedanke Bahn und ich überlegte wie das denn nun am besten anzustellen sei. Dreißig Silberlinge, Iskariot, ich muß ihn sprechen, ich muß ihm mehr bieten, er muß das Ganze irgendwie rückgängig machen! So vor mich hinquasselnd erreichte ich die Herberge, in welcher sich die ganze Gesellschaft nach dem recht üppigen und nicht weniger trunkenen Abendmahl zur Ruhe gelegt hatte. Ich zündete einen Kienspan an, um das Bett des Judas Iskariot zu finden, rüttelte ihn wach, hielt ihm den Mund zu und flüsterte ihm recht bedrohlich ins Ohr, daß wir unbedingt etwas besprechen müßten und daß wir das am besten vor der Tür täten um die Anderen nicht um ihre wohlverdiente Nachtruhe zu bringen. Nachdem sich die Tür leise ins Schloß gelegt hatte, packte ich ihn beim Kragen, rüttelte und schüttelte ihn wie einen herbstreifen Pflaumenbaumund nachdem alle Pflaumen von ihm abgefallen waren, gab ich ihm die Chance zu reden. Er erzählte mir etwas von seiner kranken Mutter und daß sie ihm die Sozialhilfe gestrichen hätten und er dringend das Geld bräuchte, denn von irgendetwas müße man ja schließlich leben. "Gut" sagte ich, indem ich meinen Griff noch etwas verfestigte, "aber was nützen dir dreißig Silberlinge wenn sich Körper und Seele ein letztes Mal 'Machs gut!' zurufen und ein einsames Würmlein schon mal deinen Geschmack testet. Wir sollten uns schnell etwas Anderes ausdenken" sprach ich weiter"und die dreißig Silberlinge, ja die dreißig Silberlinge, für die finden wir auch noch eine vernünftige Verwendung."

So kam es, daß Judas, wir waren gerade alle dabei einen ausgedehnten Morgenspaziergang zu tätigen, einem von mir eiligst herangewunkenen und unbeschreibbar geldgierigen Zollbeamten links und rechts auf die Wange küßte, als wir der Abordnung des konservativen Mobs in die Arme liefen. Die johlende Menge erkannte sofort das ausgemachte Zeichen, ergriff den Gierhals und zog grölend von dannen, sich nicht der Tatsache bewußt wen sie da mit sich schleppten. Jess wunderte sich natürlich über den Zwischenfall, aber nachdem ich ihm erklärt hatte, daß das nur ein paar Besoffene gewesen seien, setzten wir ungetrübt unseren Spaziergang fort. Hier muß ich nun leider meinen Bericht beenden, denn es passierte ein zweites Mal, daß wir uns aus den Augen verloren und wir haben uns bis heute nicht wiedergetroffen. Auch weiß ich nicht was aus dem Zolleintreiber geworden ist, denn nachdem sich Jess von mir verabschiedet hatte, zog ich in Richtung Nordwesten. Nur so eine klitzekleine Ahnung keimte in mir auf, als mir nach einigen Jahren ein Buch in die Hände fiel, welches gefüllt war mit Jess' Lebensweisheiten und einer seltsamen Schilderung seines Ablebens. Aber ich denke mir und ich bin mir sicher, daß er noch lebt, wenn ich ihn eines Tages wiedertreffe, wird er mir die Sache am Besten erklären können.

1992