Kohlenkutte und Steffanie Nachtschicht, eine doch noch glücklich endende Liebesgeschichte
Irgendetwas schreckte sie aus ihrem Traum und rumorte noch ein wenig, im Halbdämmer zwischen Schlaf und Erwachen in ihrem Kopf, als ein zweites Klingeln sie endgültig in die reale Welt zurückholte.
Sie sprang aus dem Bett, warf sich ihren alten Bademantel über den nackten Körper, eilte zur Wohnungstür, spähte durch den Spion und - sah nichts. Die kleine runde Öffnung im Holz war dunkel, dunkel wie der Arsch der Hölle und da draußen bereits eine strahlende Sonne im Begriff war den Zenit zu erreichen - wäre dies nicht der Fall, könnte ein Besucher immernoch die Treppenbeleuchtung anschalten, egal ob sie funktionierte oder nicht - da es also mitten am Tage war mutmaßte sie, daß irgendjemand seine Handfläche vor die Optik hielt.
"Wer ist da?" fragte sie durch die geschlossene Tür und eine brummige Männerstimme antwortete: "Der Herr der sieben Meere!". "Ach Horst, Du bist's!" entschlüpfte es ihrem Kußmund und während sie öffnete fiel der berühmte Stein der Erleichterung vom Herzen direkt zu Boden, konnte doch nur einer so brummen und der hieß Horst. "Komm rein, willst de 'n Kaffee?" "Nee, nee, ich wollt' nur fragen, ob Du heut abend mit in's Kulturhaus kommst, da spielt 'ne geile Band." "Ja, wie heißt 'n die?" Ihre Ohren spitzen sich, begierig den Namen aufzunehmen um ihn direkt an's Hirn weiterzuleiten, wo die Neuronen schon in den Startlöchern standen, um zu beraten, welche Antwort sie Horst geben sollte. "Die elektrisch verstärkten Staatsmusikanten" sagte er und die Neuronen fingen an kreuz und quer zu rennen. "Wer is 'n das? Der Name sagt mir garnichts." Die Neuronen spielten jetzt vollkommen verrückt. "Du weißt doch ganz genau, daß sich die Musik von den meißten Bands schwer definieren läßt. Komm einfach mit, dann wirstes ja seh'n. In Ordnung?" "Also gut, holste mich um acht ab, ich hab ja heut frei." Horst verließ frohgelaunt pfeifend ihre Wohnung, sie klinkte ein, bereitet sich ein kleines Frühstück und genoß ihren freien Tag.
Überpünktlich, zehn vor acht, stand er wieder vor der Tür. "Na, alles klar?" Sie riß ihre Augen auf, blieb, unfähig sich zu bewegen auf der Schwelle stehen und rang sich, nach ewig dauernden Sekunden zu einem "Wie siehst Du denn aus!" durch. Der da stand war nicht Horst, nein, das konnte nicht Horst sein. Vor ihr stand ein Wesen mit grau-blauer Margot Honecker - Frisur, einer Puffärmeljacke a la Cortez, grünen Pantalons und schwarzen Kniestiefeln und es stank wie die gesamte Parfümerie Frankreichs, mit einem Schuß orientalischem Weihrauch. Horst grinste bis über beide Ohren, welche mit seltsamen, bunten Gehängen geschmückt waren und im Licht der sich abzeichnenden Dämmerung zwei Feuerquallen ähnelten, die auf unerklärliche Weise an seinem Kopf hafteten.
"Na komm, beeil Dich, wir müssen los!" lachte er und immer noch etwas verwirrt kleidete sie sich vollends an und stieg in ihre Schuhe und sie machten sich auf den Weg zu dem abendlichen Spektakel. Mit dem Taxi fuhren sie zum Klubhaus, bezahlten die üblichen fünf Mark Eintritt und die üblichen fünf Pfennige als Kulturbeitrag, bestellten sich zwei Cola-Wodka, setzten sich an einen Tisch und warteten. Aus der anderen Saalecke rief plötzlich jemand nach Horst. Er stand auf, vertröstete sie mit den Worten "Bin gleich wieder da." und ging hinüber. Just in diesem Augenblick betrat der Klubhausleiter die Bühne, auf welcher schon Unmengen von Instrumenten und Beschallungselementen im Begriff waren, dem ohnehin schon wurmstichigen Bühnenboden noch ein wenig mehr abzufordern, trat an eins der Mikrofone und wandte sich an die Anwesenden. "Meine Damen und Herren!" begann er. "Ich habe jetzt die Ehre, sie in unserem Kulturhaus zu unserer wöchentlichen Jugendtanzveranstaltung zu begrüßen und wünsche ihnen viel Spaß mit der Tanzmusikformation 'Die elektrisch verstärkten Staatsmusikanten'. Danke!" Vier junge Männer, in lange Umhänge aus Sackleinen gehüllt, stürmten zu den Instrumenten und riefen, ohne die Benutzung der Mikrofone, aber trotzdem in einer beachtlichen Lautstärke: "Der Staat gibt uns Musik! Wir verstärken sie elektrisch!" Und nun brach ein Inferno herein, das die Zuhörer erschreckte und ihre Sinne betäubte, viele von ihnen in ihre Stühle bannte, um erst nach Ausklingen des letzten, eingeweidezerreißenden Akkords die Fesseln wieder zu lösen, ein Aufschrei der Naturgewalten, der Zorn ungehemmt entfesselter Elektrizität, Leben und Untergang Sodom und Gomorrhas spielten sich in einer anderthalbstündigen Orgie ab, in welcher sich Musiker und Publikum zusehends erschöpften. Dann war alles vorbei. Genauso schnell wie sie erschienen, verschwanden die vier wieder von der Bildfläche und wäre da nicht dieser kitzelnde Ozongeruch gewesen, hätte man meinen können, es sei nichts geschehen.
Sie saß vor ihrem halbgeleerten Glas und rührte sich nicht. Ihre Augen tränten, die Ohren sausten und in ihrem Mundwinkel konnte man einen kleinen, glitzernden Tropfen Speichel erkennen. Sie rührte sich auch dann noch nicht, als sich jemand neben sie setzte. "Hey, was is 'n los mit Dir?" Sie drehte den Kopf, sah ihren Nachbarn aus kugelrunden, fast pupillenlosen Augen an und stammelte: "Was war das!". "Das waren die elektrisch verstärkten Staatsmusikanten, hat's Dir nicht gefallen?" Nach einigen vergeblichen Versuchen, dem Rest ihres Drinks den Garaus zu machen sagte sie: "Ich weiß nich." Ihre Hände zitterten. "Na komm, so schlimm war's ja auch wieder nicht." Er reichte ihr die Hand. "Ich heiße Kurt, aber meine Freunde nennen mich Kohlenkutte, weil ich Kohlen ausfahre. Und wie heißt Du?" Zögernd erwiderte sie den Händedruck. "Steffie, eigentlich Steffanie." "Und was machst de so, wenn de nicht gerade zu Konzerten gehst?" Sie schaute mit fragendem Blick; ihre Pupillen hatten schon fast wieder Normalgröße. "Na was arbeitest de?" "Äh, in der Textilfabrik, Schicht, meistens Nachtschicht." "Ist bestimmt ganz schön stressig!?" "Na ja..."
Der Raum füllte sich wieder mit Musik. Ein staatlich geprüfter Diskotheker hatte den Platz der staatlich musizierenden Elektromonteure eingenommen und berieselte die Leute mit stampfendem Hoppla-Pop, kratzte sich verstohlen an der Nase und animierte durch mehr oder weniger rhythmisches Händeklatschen, rollende Hüftbewegungen und gelegentliche Wow- oder Jetzt geht's los- Rufe einige Besucher zum tanzen. Kurt nahm erneut ihre Hand. Mit einer Kopfbewegung zu den Tanzenden fragte er sie: "Woll'n wa auch?" "Na ja... Kurt." "Sag ruhig Kutte. Na los, komm!" Er entführte sie zu den anderen wippenden Körpern und zwischen Tänzern, deren Bewegungen an die von Duell-Schützen in einem schlechten Western erinnerten und dem Kreiselreigen johlender Hobby-Apachen erfuhr sie, sich wiegend und drehend, ein wenig mehr über ihn.
Er war erst vor einem Monat von Forst nach Cottbus gezogen, hatte in Senftenberg alles über den fossilen Energieträger gelernt, den man Braunkohle nennt und so wahnsinnig wichtig und so wahnwitzig dreckerzeugend ist, daß sich sogar die Lebewesen, aus denen er einst entstand, mit einem asthmatischen Husten die Nase zuhalten würden. Und nun fuhr er eben mit seinem Dumper Braunkohlebriketts durch die Stadt und verkaufte sie an diejenigen, welche einen Ofen oder etwas ähnliches hatten und die kälteren Jahreszeiten in warmer Gemütlichkeit verbringen wollten. Ein harter Job, aber Kurt war's zufrieden und nächstes Jahr könnte er vielleicht die Kohlenhandlung übernehmen, da sein Chef höchstwahrscheinlich wegen seiner Staublunge frühzeitig in Rente gehen würde.
So tanzten sie also, kamen sich allmählig näher, turtelten und zwitscherten, gurrten und surrten und beschlossen, eng umschlungen und nach dem Schwur für immer zusammen zu bleiben, ihre Telefonnummern auszutauschen, was nur dadurch vereitelt wurde, daß sie beide kein Telefon hatten. Natürlich bestand da die Möglichkeit am Arbeitsplatz anzurufen; aber er war den ganzen Tag unterwegs, sie hatte ihre verdammten Nachtschichten, er schlief wenn sie arbeitete und sie schlief wenn er arbeitete. Oh, ungerechte Welt! Soll so eine junge Liebe zum scheitern verurteilt sein!? Ist das der Lohn ihrer ehrlichen Arbeit?
Nein! Denn es sollte anders kommen. Es brach eine Zeit an, welche später als Wende bezeichnet werden sollte und die so manches Unglück brachte und doch, wie in dieser Geschichte, auch verdientes Glück. Ein Gutachten einer Institution, die, warum auch immer, die Worte Treue und Hand in Beziehung setzte, ergab, daß der Betrieb in dem Steffi arbeitete ein wenig an Personal abspecken müsse um konkurrenzfähig zu bleiben. So wurde sie der Rubrik Speck zugeteilt und auf unbestimmte Zeit von ihrer schweren Arbeit befreit. Und Kurt? Nun ja, Kurt wurde zwar nicht wie versprochen Chef der Kohlenhandlung - die Umstellung von Ofen- auf Zentralheizung in seinem Lieferbezirk machte seine Dienste überflüssig - aber was machte das schon, bekam er ja noch Unterstützung und wenn es in seiner Börse nicht mehr so munter klimperte, dann war das doch ein Geringes, wo jetzt dem jungen Glück keine Nachtschicht und kein zeitfressender Brikett-Transport mehr im Wege stand.
Und wenn sie nicht gestorben sind und sich vielleicht auch immernoch lieben, trifft man sie bestimmt irgendwann, Hand in Hand, auf dem Cottbusser Arbeitsamt.
1992