Salz
Mitternacht war längst vorbei und auf den Straßen formte sich der Zug der Verfemten. An bedeutenden Verkehrsknotenpunkten wurden reichhaltige Ölquellen entdeckt und der schwarze Saft verklebte das Pflaster und füllte die Schlaglöcher bis zum Rande aus. Die UV-Strahlung der Sonne brachte das Öl zum Sieden und versteckte alles unter einem blasigen Teppich. Man sah eine Idylle ohnegleichen und die Menschen schlugen vor Freude ihre Köpfe gegeneinander, daß es nur so krachte. Es wurde getanzt und gefeiert und so mancher glitt in diesem Schleim aus, doch das macht nichts, war man jetzt doch reich.
Ein Fahrradfahrer bahnte sich seinen Weg durch die aufgebrachte Menge, schleuderte, verlor das Gleichgewicht und schlug lang hin. Er war erbost ob der der verschmierten Fahrbahn, wußte aber nicht, wie er seiner Wut Luft machen sollte. Die Reifen seines Rades hatten sich in der Pampe aufgelöst. Da er es aber sehr eilig hatte, fuhr er auf den Felgen weiter und zog tiefe Furchen durch den Asphalt, in welchen sich sogleich das Öl sammelte. Eine wichtige Depeche mahnte in so zur Eile, welche er als Kurier der königlichen Akademie der Wissenschaften an den obersten Sowjet der transsylvanischen Räterepublik überbringen sollte.
Sie beinhaltete eine Abhandlung über die Verknüpfung der Intelligenz und des menschlichen Geistes, mit der stetig steigenden Unfall- und Selbstmordrate in Badekurorten, vor allen Dingen an Salzwasserküsten. Dies hing offensichtlich mit der Ablagerung von merkwürdigen Salzkristallen in den Blutversorgungsgefäßen des Kleinhirns zusammen, wodurch eine Blockade des Logikzentrums hervorgerufen wurde, was eine Fehlkoordination der Motorik nach sich zog. Die Menschen rannten mit verrenkten Gliedern über die Dünen, bissen in den Sand und jene, welche sich zur Zeit des Auftretens des Defektes gerade im Wasser befanden, hatten das unbedingte Bedürfnis, so lange und so tief zu tauchen, bis ihr Luftvorrat nicht mehr ausreichte, sie an die Oberfläche zurückzubringen.
Die Wissenschaftler zerbrachen sich ihre Köpfe, welche dann klirrend auf den Boden schlugen und suchten nach einer Lösung, um dem Massensterben ein Ende zu bereiten und den immer mehr abnehmenden Touristenstrom wieder zum Fließen zu bringen. Die Chemiker sollten das Salz analysieren, um ein Mittel gegen die seuchenartige Erkrankung entwickeln zu können. Doch das Geschehen nahm eine andere Wendung.
Die Kristalle verschmolzen immermehr zu großen Klumpen und nach wenigen Tagen schwammen kubikkilometergroße Salzinseln in dem, ums Überleben ringende Meer. Jeglicher Badefreude ward nun Einhalt geboten, stießen sich doch die Menschen an diesen Teilen, schnitten sich an den scharfen Kanten die Haut entzwei und hatten überhaupt keine Bewegungsfreiheit mehr zum Schwimmen. Das Meer verschwand zusehends und das Salz drohte nun auch das Festland einzunehmen, gleich den Eismassen einer Eiszeit und das Volk floh in panischer Angst in salzärmere Gebiete. Die Verkehrsgesellschaften profitierten davon nicht schlecht, stellten sie doch die Fluchtfahrzeuge zur Verfügung, für bares Geld, versteht sich.
Und unser Kurier eilte und eilte, um Transsylvanien noch vor Sonnenaufgang zu erreichen, wußte er doch, daß man dort am Tage schlief und nur in der Nacht lebte und arbeitete. Er hatte sich inzwischen ein neues Fahrzeug besorgt, man konnte ja nicht ewig auf den Felgen fahren, denn das kostete viel Kraft und Zeit. So durfte er jetzt einen Schlitten sein Eigen nennen, vor welchen ihm Staatsdiener, in bester Kraft und Blüte gespannt worden waren und er war frohen Mutes, sein Ziel noch vor besagter Stunde zu erreichen. Die Wölfe sangen in friedlicher Eintracht, der Mond schien voll und rund und die Gegend belebte sich immermehr.
Fröhlich jauchzende Schatten strichen um das Gefährt und unser Bote wähnte sich schon in der Hauptstadt der Republik, wurde das Treiben doch immer turbulenter. Aber die Schlittenhunde wurden von einer eigenartigen Unruhe befallen, kannten sie das Terrain ja sehr gut und wußten die Zeichen zu deuten. Sie sträubten sich den Schlitten auch nur einen Meter weiter zu ziehen, befreiten sich aus dem Geschirr und suchten das Weite, wurden aber nach wenigen Minuten von der einheimischen Nahrungspolizei gestellt und zum Amt für Lebensmittelbeschaffung verbracht.
So stand unser Bote alleine da, mit seinem jetzt wertlosen Schlitten und wußte nicht ein noch aus. Die Nacht war kalt und er fror erbärmlich. Der Wind pfiff um sein Gesicht und trug schmatzende und knirschende Geräusche an seine Ohren und der große, helle Mond beleuchtete eine erschreckende Szenerie.
1993