Versuch einer Vision

Berlin, den 20. November 2000. Ich wache auf. Mein Bett ist durchnäßt vom Schweiß eines Albtraumes. Ich wasche mich, heize und mache mir etwas zu Essen. Danach kontrolliere ich die Türsicherungen und öffne für einen Augenblick die Fenster. Nur für einen Augenblick, man kann ja nie wissen, in dieser Zeit.

Nur Wenige wagen es noch aus dem Haus zu gehen. Die Lebensmittel werden durch die Post zugestellt. Gearbeitet wird zu Hause, wenn es noch etwas zu arbeiten gibt. Ist ja schon fast alles vollautomatisch. Sieg Heil - Technik! Wozu brauchst du uns noch? Das Martinshorn ist mit Permanenz und nur kurzen Unterbrechungen den ganzen Tag über zu hören. Na ja, man gewöhnt sich daran.

Ich schaue auf die Uhr, es ist Zeit die Nachrichten einzuschalten. Ein Staatsknecht flegelt sich am Sprechertisch und heuchelt Hoffnung auf Sicherheit, verbreitet aber nur Zweckoptimismus und wagt es dabei zu lächeln. Meldung um Meldung schleicht sich durch den Horrorkanal. Bilder, Mörder, Intriganten. Und das möglichst noch zum Frühstück. Na ja, vielleicht hat man ja sowieso keinen Appetit und Kotzen gehört sowieso zum Alltag und sowieso kann man das Essen auch bleiben lassen, wird ja letztendlich sowieso alles aus alten Gummireifen hergestellt. Und selbstverständlich sagt man "sowieso", obwohl man doch eigentlich "wieso" sagen oder besser fragen sollte.

Tatsache ist, daß Worte keine Bedeutung mehr haben. Man spricht ja kaum noch miteinander. Es sei denn, man traut sich auf die Straße und trifft dann zufällig auch noch jemanden der gesprächsbereit ist und nicht in panischem Entsetzen flieht.

Unter den Brücken und auf den Lüftungsschächten macht ein Wort die Runde - Überbevölkerung. Und den Spekulanten und Miethaien eröffnet sich ein neues Terrain. Vermittlung von Schlafplätzen an der frischen Luft - gegen Gebühr versteht sich.

Allein in Europa gibt es 450 Millionen Autos und die noch existierende Flora und Fauna reist glaskuppelbewehrt als Nostalgie-Show um die Welt.

Ein ziemlich altes Lied, eigentlich schon als Oldie zu bezeichnen, stürmt die Charts und in fast jeder Stube säuselt es aus den Boxen: "Bye-bye Life, bye-bye happiness, hello loneliness, I think I'm gonna die, bye-bye my life goodbye!" AIDS ist mittlerweile so verbreitet wie Schnupfen und die Weltraumbehörden haben keine andere Aufgabe, als die eines Bestattungsunternehmen, denn da die Friedhöfe schon längst ihre Kapazität überschritten haben, gibt es nur noch eine Möglichkeit den Worten Gottes "Asch zu Asche, Staub zu Staub!" zu genügen - Feuerbestattung in der Sonne.

Doch Gott selbst hat die diplomatischen Beziehungen zur Erdbevölkerung schon längst abgebrochen, hat resigniert und sein Glück irgendwo anders versucht, vielleicht in einer fernen Galaxie.

Die guten alten Sauerstoffautomaten stehen wieder an jeder Straßenecke, nur mit dem kleinen Unterschied, daß der Preis bereits ins Astronomische gestiegen ist und man gut und gerne einen halben Monatslohn für zehn Minuten Lungenkur berappen kann. Entweder ein Privileg der reicheren Artgenossen oder man schmälert seine Ersparnisse, soweit man welche hat. Manche versuchen der Misere durch besondere Atemtechniken zu entfliehen. Aber das ist erst wenigen geglückt, meistens irgendwelchen Yogis oder Außerirdischen.

Nichtsdestotrotz, alle freuen sich auf das dritte Jahrtausend und schmieden Pläne für die Zukunft. Man lebt ja noch und irgendwie wird man die anstehenden Probleme schon bewältigen - IRGENDWIE.

1990